K. stolpert unsicher zur Tür, reisst sie auf und blickt den langen Flur entlang. Keine Menschenseele zu sehen, alle Türen sind fest geschlossen. Er wankt nach links, wo er den Ausgang vermutet, hört ein leises Klick, als die Tür hinter ihm ins Schloss fällt. Er klopft an die nächste Tür, murmelt "Aufwachen, alle, gleich ist es zu spät! Das Wasser steigt, schnell!". Erschrocken über sein eigenes, fast unverständliches Gemurmel schwankt er weiter, schlägt mit der flachen Hand an die Tür auf der anderen Seite des Gangs, brabbelt "Das Wasser, herrgottnochmal, nun wacht doch auf! Wir werden alle untergehen!". Keine Reaktion. Die Angst drückt auf die Blase, K. wird schmerzhaft bewusst, dass er sich sich schleunigst erleichtern sollte.
Immer noch schlaftrunken macht K. sich auf die Suche nach einem WC, rüttelt an allen Türgriffen, stammelt schwach von steigendem Wasser, Katastrophe, Untergang und Pinkeln. Niemand reagiert, keine Tür öffnet sich. Endlich gibt eine Klinke nach, K. fällt der Länge nach in den Raum, sieht links und rechts Regale mit Bettwäsche und Handtüchern. Er ist in der Wäschekammer gelandet, aber am anderen Ende des Raums sieht er einen schwachen Schein von Mondlicht am Boden. Schnaufend rappelt er sich auf, macht sich auf den Weg. Ja, dort kann er hinaus schauen in die Nacht, er findet einen Griff, versucht ihn zu drehen, ein Ruck, und die kühle Nachtluft umstreicht seine nackten Beine, weckt ihn noch ein wenig mehr.
Sofort pinkelt K. in hohem Bogen hinaus, seufzend. Er spürt, wie seine Anspannung nachlässt, die Gedanken sich ordnen. Je leerer seine Blase wird, desto grösser werden die Fragezeichen in seinem Kopf. Auf welchem Schiff ist er eigentlich? Wohin ist er unterwegs? Während er sich vergeblich bemüht, auch das letzte Tröpfchen abzuschütteln, gelingt es ihm nicht, sich die jüngste Vergangenheit ins Gedächtnis zu rufen.
Er macht sich wieder auf den Weg, zurück auf den Gang, und plötzlich wird ihm bewusst, dass er lediglich mit einem T-Shirt bekleidet ist. Füdliblutt steht er da, mit der linken Hand stützt er sich an der Wand, die rechte hält sein Gemächt fest umklammert. Stirnrunzelnd neigt er ganz langsam den Kopf zur Seite, und während sich das letzte Urintröpfchen löst und lautlos im Läufer des Gangs versickert, nur einen klitzekleinen Fleck hinterlässt, fällt ihm alles wieder ein.
...
Dssssst, Dsssst, Dsssst.
Dssssst, Dsssst, Dsssst.
Dssssst, Dsssst, Dsssst.
Verschlafen öffnet K. erst ein Auge, dann beide. Er versucht, sich zu sammeln, eine innere Stimme warnt vor Hektik. Das war knapp, heute Nacht. Wäre der Nachtportier nicht so hilfsbereit gewesen, was hätte er dann nur getan, ohne Hosen vor der verschlossenen Zimmertür? Was, wenn ihn jemand beim Pinkeln aus dem vierten Stock in den Innenhof gesehen hätte, oder, noch schlimmer, wenn ein anderer Hotelgast auf sein Klopfen reagiert hätte? Und die Tür aufgemacht hätte - womöglich gar eine Frau, die vielleicht sogar an der selben Schulung teilnimmt wie er?!? Und er hätte ihr etwas von Pipi und Katastrophe vorgebrabbelt, schlaftrunken nur im T-Shirt, sein bestes Stück fest umklammert mit der rechten Hand. Nicht auszudenken!
K. schaltet den Wecker aus, gähnt herzhaft und macht sich auf den Weg zur Dusche. Er schüttelt heftig den Kopf, um die Erinnerung an die Nacht zu verscheuchen Es liegt schliesslich ein anstrengender Tag vor ihm, der zweite des Lehrgangs "Management Training für Geschäftsleitungsmitglieder: Mitarbeitermotivation durch natürliche Kompetenz und gottgegebene Autorität".
Freundliche Grüsse
RP